• Review: Scorched

    Es ist noch gar nicht so lange her, da stellte eine aus New Jersey stammende Achtziger-Jahre-Institution mit dem grünen Bandlogo wohl weltweit das Maß aller Dinge in Sachen Thrash Metal dar. Die Rede ist selbstredend von den Urgesteinen von Overkill, die während der ersten Hälfte der zehner Jahre die Szene dominierten. Mit "Ironbound" meldete sich das Quintett nach einem langen und steinigen Weg aus der Krise, in die die Band in den Neunzigern geschlittert war, eindrucksvoll zurück und die Nachfolger "The Electric Age" und "White Devil Armory" können mit Recht als moderne Klassiker gelten. Demgegenüber stellte "The Grinding Wheel" ein recht durchwachsenes Scheibchen dar, ehe man 2019 mit "The Wings Of War" wieder Boden gutmachen konnte. Der neueste Streich, insgesamt Nummer zwanzig in der Bandgeschichte, hört nun auf den Namen "Scorched" und hätte eigentlich schon 2021 veröffentlicht werden sollen, wenn nicht die Pandemie das unmöglich gemacht hätte. Nach zwei Jahren der Verzögerung und des Anlegens von letztem Schliff an die zehn Nummern steht nunmehr die längste Pause, die je zwischen zwei Overkill-Alben lag, zu Buche und umso gespannter ist die Szene natürlich, wie sich die neue Scheibe einordnen lässt.

    Nun, für den Thrasher dürfte "Scorched" kein ganz einfaches Album werden, denn wirklich abgehen tut es hier nur in seltenen Fällen. Man verstehe das nicht falsch: Selbstverständlich darf man Overkill nicht an den Maßstäben messen, die man an eine typische Bay Area-Band oder gar die deutschen oder südamerikanischen Genrevertreter anlegen würde, denn die Ostküstler haben sich niemals so sehr auf pure Geschwindigkeit und rohes Geknüppel verlassen wie die Genannten. Doch wenn auf einer Platte von zehn Songs über die Hälfte davon kaum in die Gänge kommen, dann ist das bei einem Thrash Metal-Album schlichtweg zu beanstanden. Noch schwerer wiegt dieser Makel, wenn auch das Songwriting an sich verhältnismäßig bieder ausfällt. Overkill sind eine Band, die eigentlich auf jedem ihrer Alben (vom in sich tatsächlich sehr konsistenten "White Devil Armory" vielleicht einmal abgesehen) die eine oder andere schwächere Nummer dabeihatte, doch waren sie oftmals in der Lage, dies zu kompensieren, indem sie einen absoluten Über-Hammer auf ihrer Scheibe platzierten. Diese Fähigkeit scheint Songwriter D.D. Verni jedoch in letzter Zeit ein wenig abhanden gekommen zu sein. Schon "The Wings Of War" hatte mit "Believe In The Fight" (das die Band in ihrer Live-Setlist ironischerweise komplett ignorierte) nur einen einzigen Track an Bord, den man mit viel gutem Willen zu den Karrierehighlights der Gruppe zählen konnte, und auf "Scorched" suche ich einen solchen Mega-Hit bisher gänzlich vergebens. Die Probe auf’s Exempel lässt sich schon ganz zu Beginn der Scheibe machen: Wenn der Titelsong auch gleichzeitig der Opener ist und zudem noch als Single ausgekoppelt wird, dann möchte man meinen, es hier mit dem zentralen Track des Albums zu tun zu haben. Tatsächlich ist "Scorched" auch eine gute Nummer, vielleicht die beste des ganzen Longplayers, und für manch andere Band würde solch ein Stück einen wahren Höhepunkt markieren. Aber im Falle von Overkill wird man sich leider dennoch schwer tun, unter den Openern der letzten fünf Alben irgendeinen zu finden, der "Scorched" nicht deutlich vorzuziehen wäre.

    Damit ist natürlich leider auch schon angesprochen, dass die Scheibe nach dem Opener nicht wirklich besser wird. Im Gegenteil, nur noch bei zwei Songs, "The Surgeon" und "Harder They Fall", wird ein ähnliches Energielevel erreicht wie hier. Diese Zahmheit großer Teile der Platte mag zum Teil mit der musikalischen Leistung der einzelnen Mitglieder zusammenhängen. Zumindest bei Bobby Blitz scheint sich das Alter mittlerweile bemerkbar zu machen, Ausflüge in höchste Stimmlagen sind auf "Scorched" die große Ausnahme. Stattdessen versucht sich Bobby häufiger an melodiösen Gesangslinien, gerne unterstützt von dezenten Harmony Vocals, was ihm jedoch nicht wirklich gut zu Gesichte steht. Daneben muss sich auch Dave Linsk die Kritik gefallen lassen, dass er es, bei aller völlig unbestrittenen technischen Klasse, nicht immer geschafft hat, wirklich interessante Gitarrensoli zu schreiben. Immerhin, Sticks Bittner scheint eine Art Kreativitätstrank gefunden zu haben, jedenfalls ist der Drummer ständig aktiv und unterhält den Hörer über die fünfzig Minuten des Albums hinweg prächtig, weit über die Standards des Genres hinaus.

    Zum Anderen mag jene gewisse Beliebigkeit, die "Scorched" anhaftet, vielleicht auch mit der langen Entwicklungsphase des Albums zusammenhängen. Möglicherweise hatten Overkill einfach zu viel Zeit, Dinge auszuprobieren, den experimentiert wird auf der neuen Scheibe zur Genüge - es sei der altbekannte (und leider seit jeher heillos überbewertete) Doom-Thrash auf "Fever", die epischen Elemente in "Twist Of The Wick" oder der betont entspannte Rock von "Bag o’ Bones", dessen Refrain sich anhört, als hätten ihn Megadeth während der "Youthanasia"-Sessions aussortiert. Hätten Overkill diese Experimente, wie es ja ihrem üblichen Veröffentlichungsrhythmus entspräche, auf zwei Alben aufgeteilt und damit die Innovation pro Longplayer gerechnet halbiert, hätte dies dem Endergebnis vermutlich gut getan. So wirkt "Scorched" leider Gottes ein wenig zerfahren.

    Fazit:
    Es dürfte aus dem oben Geschriebenen deutlich geworden sein, dass die neue Scheibe keineswegs mit den Knallern, die die Band bis 2014 veröffentlichte, konkurrieren kann, und auch im Vergleich zum direkten Vorgänger "The Wings Of War" mangelt es "Scorched" einfach an Energie. Als Vergleichsobjekt kommt damit in der jüngeren Vergangenheit der Banddiskographie nur "The Grinding Wheel" in Betracht. Fest steht, dass der durchschnittliche Song auf dem 2017er Album noch etwas langatmiger und zäher war als auf der aktuellen Scheibe. Andererseits verfügte jenes Album mit "Mean, Green, Killing Machine" über einen echten Über-Hit und mit "Our Finest Hour" und "Let’s All Go To Hades" zusätzlich noch über zwei weitere Nummern, die auf "Scorched" schwerlich Ihresgleichen finden werden. Müsste ich gerade im Moment eine Wahl treffen, so würde ich wahrscheinlich trotzdem "Scorched" den knappen Vorzug geben, da gerade der hohe Abwechslungsreichtum auch für einen gewissen Unterhaltungsfaktor sorgt, selbst wenn nicht jede Nummer ins Schwarze trifft. Trotzdem handelt es sich sicherlich um eine der schwächeren Overkill-Scheiben der jüngeren Vergangenheit und man darf gespannt sein, ob es der Band gelingen wird, mit dem nächsten Studio-Output wieder etwas konziser zu Werke zu gehen. Sollte nicht wieder eine Pandemie dazwischenkommen, dürfte dieser wohl gegen 2025 zu erwarten sein.


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