• Review: Metallica - 72 Seasons

    Es ist schon ein erstaunliches Phänomen, dass ausgerechnet die beiden mit Abstand größten Bands des Metal-Genres, Metallica und Iron Maiden, diejenigen Künstler sind, die von ihrer Fanbase, zumindest der ursprünglichen, am meisten kritisiert werden. Noch interessanter ist dabei, dass die Kritikpunkte sich im Falle beider Gruppen zumindest streckenweise erstaunlich ähneln. Beide haben sich längst weit von ihrem ursprünglichen Stil entfernt und können eigentlich kaum mehr guten Gewissens als die Speerspitze desjenigen Genres bezeichnet werden, in welchem sie groß geworden sind. Wer klassischen Heavy Metal liebt, der wird dieser Tage lieber bei Accept oder Judas Priest reinhören als bei Maiden, die unterdessen eher Progressive Metal spielen. Und was Metallica betrifft, so ist es bezeichnend, dass für sie mittlerweile der Vergleich mit Iron Maiden, der ausschließlich auf den Verkaufszahlen beider Gruppen basiert, häufiger gezogen wird als derjenige mit irgendeiner anderen Thrash Metal-Band - selbst derjenige mit den lange Zeit als Erzrivalen gehandelten Megadeth. Es würde auch, wenn man ehrlich ist, überhaupt keinen Sinn mehr machen, Metallica mit der Spitze der Thrash Metal-Bewegung zu vergleichen, da die Amis in den letzten Jahrzehnten bestenfalls ein bis zwei Handvoll Songs veröffentlicht haben, in denen wenigstens Reminiszenzen an jenes Genre zu finden sind.

    Nun ist der neue Metallica-Longplayer "72 Seasons" draußen und auch er verändert wenig an dieser Gemengelage. Thrash Metal ist auf dem schwarz-gelben Scheibchen einmal mehr eine rare Mangelware, der Großteil des Albums dümpelt in eher zahnlosem Rock-Gewand vor sich hin. Sicher, auch in dieser Stilistik sind ein paar nette Ansätze auszumachen, aber es sagt schon etwas über die Gesamtqualität der Platte aus, wenn ein nettes, aber doch eher unbedeutendes Detail wie der kleine harmonische Twist im Riff zu "Chasing Light" am Ende als Highlight in Erinnerung bleibt. Der Titelsong wiederum startet zumindest mit einem coolen Thrash-Riff, reißt jedoch mit dem Hinterteil alles wieder ein, wenn sich der Beat ändert und auch diese Nummer zu einem zahmen Alternative Rock-Track verkommt. Allgemein sind die Stücke, an denen Kirk Hammett oder Robert Trujillo mitgeschrieben haben, im Durchschnitt noch schwächer als die reinen Hetfield-Ulrich-Kompositionen, bieten sie doch gemessen auf die Spielzeit noch weniger Höhepunkte.

    Damit ist man freilich schon beim nächsten Punkt: Die Songs auf "72 Seasons" sind durch die Bank deutlich zu lang. Sicher, Metallica waren immer schon bekannt für eher üppige Instrumental-Abschnitte, doch waren diese auf ihren klassischen Alben sinnvoll strukturiert und zeigten irgendeine Form von Progression von einem Part zum nächsten. Auf der neuen Scheibe dagegen klingt Vieles einfach nach einer mitgeschnittenen Jamsession ohne jeden Spannungsbogen. Am negativsten macht sich das naheliegenderweise beim überlangen "Inamorata" bemerkbar, doch auch von den anderen Songs ist kaum einer vor diesem Makel gefeit. Die 77 Minuten Spielzeit der Scheibe hätte man locker um eine Viertelstunde entschlacken können, ohne dabei die Substanz irgendeines Stücks antasten zu müssen.

    Es ist dann sicher kein Zufall, dass sich unter den vier kürzesten Songs der Platte auch die drei besten befinden. "Lux Æterna" ist ein flotter, stark NWoBHM-beeinflusster Heavy Metal-Feger mit hohem Energielevel. Etwas untypisch für Metallica, aber durchaus überzeugend. Das Problem ist lediglich, dass man sich, um überhaupt bis zu dieser Nummer zu kommen, erst einmal durch knapp 35 Minuten Material der Güteklasse "You Must Burn!" kämpfen muss. Nach "Lux Æterna" dauert es dann wiederum fast bis zum Ende des Albums, bis "72 Seasons" noch einmal irgendwie interessant wird. "Too Far Gone?" schlägt in eine ähnliche Kerbe wie der gerade genannte Track, ein weiteres klassisches Heavy Metal-Stück, ehe "Room Of Mirrors" tatsächlich noch mit gewissen thrashigen Anleihen aufwartet, wenngleich auch hier Melodie ganz klar groß geschrieben wird. Auffälligerweise sind es auch gerade die beiden letztgenannten Songs, die über die gelungensten Solo-Sektionen des gesamten Albums verfügen.

    Ein weiterer Punkt sei hier nur noch angesprochen, weil er in anderen Rezensionen erstaunlich oft erwähnt wird. Vielfach wird nämlich dem musikalischen Mittelmaß von "72 Seasons" dessen angeblich hohe textliche Qualität gegenübergestellt. Noch nie habe, so liest man da, James sein Innerstes so vor dem Hörer ausgeschüttet wie auf diesem Longplayer. Mal ganz abgesehen davon, was es über ein Album aussagt, wenn man anstelle der Musik die Texte zu seiner Verteidigung ins Feld führen muss, scheint es sich bei derlei Aussagen um relativ unreflektierte Übernahmen aus den Pressetexten und Ankündigungen der Band selbst zu handeln. Ich jedenfalls konnte im Titelsong keine zwei Zeilen entdecken, die in irgendeinem erkennbaren inhaltlichen Zusammenhang miteinander stehen. Das ist kein intimer Einblick in die Seele des Dichters, sondern sinnentleertes Jonglieren mit Wörtern.

    Fazit:
    Um noch einmal auf den eingangs gezogenen Vergleich zu Iron Maiden zurückzukommen, so leiden Metallica weiterhin unter ähnlichen Symptomen wie ihre Genossen aus der alten Welt und man fragt sich, wie derlei auffällige Parallelen wohl zustande kommen. Glauben diese Bands, es aufgrund ihres enormen Erfolgs der Hörerschaft schuldig zu sein, immer gleich mindestens siebenzig Minuten Musik auf einmal abliefern zu müssen? Denken sie, dass es unter ihrem Anspruch wäre, einfach nur ein "normales" Album in ihrem angestammten Genre zu veröffentlichen, wie das auch unzählige andere Gruppen tun? Was immer es sein mag, fest steht, dass diese Herangehensweise die letzten Outputs beider Bands nicht besser gemacht hat. Nun ist die Lage bei Metallica immer noch nicht so dramatisch wie bei Iron Maiden, aber dennoch ist "72 Seasons" noch einmal deutlich spannungsärmer als "Hardwired... To Self-Destruct" und wäre ohne den Aufschwung gegen Ende qualitativ nicht über "Load" anzusiedeln. Die schwächste Metallica-Scheibe seit "St. Anger" ("Lulu" nicht mitgerechnet) ist es auch so.


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