Flotsam And Jetsam - Blood In The Water

  • Flotsam And Jetsam: Blood In The Water

    "Was ist los mit 2021?", fragt man sich zurecht nach knapp der Hälfte des laufenden Kalenderjahres. Nachdem uns die Pandemie im vorigen Jahr noch eine Vielzahl an mitunter großartigen Alben geliefert hat, deren Live-Umsetzung man schmerzlich vermissen konnte, scheint sich 2021 überhaupt keine Band mehr hinter dem Ofen hervor zu wagen. Viel war jedenfalls bisher nicht geboten, was die Veröffentlichungen dieses Jahres anbelangt und das, was man zu hören bekam, war meist von bestenfalls mittelmäßiger Qualität. Da war es eine Erleichterung, zu hören, dass die Amerikaner von Flotsam And Jetsam eine neue Langrille im Rohr haben. Die Herren um Urgesteine Eric AK und Michael Gilbert haben mit ihren letzten zwei Alben qualitativ höchstwertigen Thrash Metal abgeliefert und insbesondere mit "The End Of Chaos" ein Werk geschaffen, das jeder Achtziger-Jahre-Headbanger unter den besten Longplayern der vergangenen Dekade nennen sollte. Können die Veteranen also mit ihrem neuen Album an diese Erfolgssträhne anknüpfen?

    Nach dem ersten Song muss das Urteil ganz klar lauten: Ja! Flotsam And Jetsam zeigen mit "Blood In The Water" umgehend, was eine Harke ist, aber nicht nur das: Ultra-intensiver Thrash Metal verbindet sich mit ergreifender Melodieführung und einem Refrain zum Niederknien. Einzelne Musiker hervorzuheben, erübrigt sich hier; das ist Metal-Kunst in Vollendung und stellt - so unglaublich das klingen mag - direkt mal alles, was "The End Of Chaos" zu bieten hatte, in den Schatten.

    Zugegeben, bei der Veröffentlichung der ersten Single, "Burn The Sky", hatte der Rezensent noch leichte Zweifel, was das Album anbelangte. Sicher, gut nach vorne ging das hier allemal, aber der letzte Funke wollte nicht gleich überspringen. Doch nach einigen Wochen intensiven Hörens, während dessen sich die Melodiebögen und die subtilen Tempowechsel des Songs immer weiter erschlossen, bleibt zu konstatieren: Ich gebe mich geschlagen im Angesicht der musikalischen und kompositorischen Klasse, die hier geboten wird. Das ist einfach großes Kino.

    Auf dem folgenden "Brace For Impact" gelingt der Band schließlich das Kunststück, einerseits eine noch härtere Dampframme vorzulegen, andererseits aber auch ein paar feine Harmony-Parts einzustreuen. Wie schon zuvor auf dem Album zeigt sich hier die ganz spezielle Qualität von Flotsam And Jetsam, eben gerade keine hunderprozentigen Vollblut-Thrasher zu sein, sondern immer einen Blick für hochmelodische Arrangements zu haben, die den Songs einen genuin eigenen Charakter geben. Genial!

    Ein derart hohes Niveau, wie es hier angeschlagen wird, ist natürlich für jede Band der Welt schwer über ein ganzes Album zu halten und tatsächlich setzt, nachdem wir die drei Singles des Rundlings hinter uns lassen, ein deutlich spürbarer Qualitätsverlust ein. "A Place To Die" behält zwar die generelle Marschrichtung bei, ist gleichermaßen hart wie melodisch, aber das dargebotene Material ist einfach schwächer als auf den vorigen Songs, die Parts fließen nicht so natürlich ineinander. Nichtsdestotrotz ist das hier alles Andere als ein schwaches Stück; für den Refrain würde Alex Skolnick dieser Tage wahrscheinlich ohne zu zögern sein Erstgeborenes opfern, aber im Kontext dessen, was wir schon hören durften, spielt dieser Song nur die zweite Geige.

    Eine Abweichung auch auf stilistischer Ebene stellt sich wenig später mit "The Walls" ein. Der Song wird häufig mit Iron Maiden verglichen und auch wenn es vielleicht etwas gemein anmutet, Flotsam And Jetsam in die Reihe mit einer Band zu stellen, die seit dreißig Jahren kein ordentliches Album mehr auf die Kette bekommen hat, ist erkennbar, woher die Referenz kommt. Statt wütenden Thrashs bildet hier eher zahmer Midtempo-Metal das Rückgrat des Songs und obschon sich das Quintett aus Arizona auch auf diesem Terrain nicht blamiert, bringt der Track doch das Album als solches kaum weiter.

    Noch bunter treibt man es im Anschluss daran mit "Cry For The Dead", wo die Amis mit einer astreinen Power-Ballade aufwarten. Gut, nun ist es nicht das erste Mal, dass Flotsam And Jetsam so einen Song einbauen und auch solche Nummern hat man in der Vergangenheit schon deutlich schlechter gehört, auch von renommierten Gruppen (zur Illustration dessen darf gerne die letzte Accept-Scheibe aufgelegt werden); dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Scheibe nach dem regelrecht monströsen Beginn in dieser Phase ein Wenig versandet.

    Nur unwesentlich verbessert zeigt sich auch das folgende "The Wicked Hour". Zwar findet die Band nach zwei eher experimentellen Songs hier in die Thrash-Schublade zurück, doch kann das Stück nicht mit dem Beginn der Scheibe konkurrieren. Die Bezeichnung als Lückenfüller wäre vielleicht unfair, denn dafür hat "The Wicked Hour" zu viele eigenständige und innovative Ideen, aber die Versuche zu einem etwas progressiveren Song-Aufbau wollen nicht mit letzter Sicherheit verfangen.

    Doch klar ist, dass eine Band wie Flotsam And Jetsam nicht den Rest des Albums vor sich hin plätschern lassen wird. Stattdessen entscheidet man sich für die radikale Lösung: Mit "Too Many Lives" nimmt man das Tempo konsequent heraus und fährt eine Midtempo-Riff-Wand auf, die jede Kritik umgehend in Stücke schießt. Natürlich flicht man in der Bridge auch wieder einige interessante, noch nicht zu oft gehörte Harmonie-Passagen ein und macht umgehend klar, dass man sein Pulver keineswegs bereits verschossen habe.

    Denn nun setzen Flotsam And Jetsam zum Finale Furioso an. Zunächst stößt der "Grey Dragon" auf den Hörer nieder und speit Lyrics, für die Eric AK mindestens zwanzig Jahre in die Rob Halford-Schule für ultra-metallisches Liedgut gehen musste, nebst Highspeed-Drums, einem tänzelnden Mainriff und einem tatsächlich völlig Klischee-freien "Ooh-ooh"-Prechorus (wann erlebt man das schon einmal?).

    Ein großartiger Song und das folgende "Reaggression" macht, wie der Eine oder Andere vielleicht schon anhand des Titels erraten haben mag, ebensowenig Gefangene. Mit welcher Selbstverständlichkeit es Flotsam And Jetsam nun schon seit Jahren immer wieder schaffen, messerscharfe Riffs und bewegende Melodien mit geradezu chirurgischer Präzision gegeneinander auszubalancieren, ist beinahe beängstigend und dieses Stück ist ein perfektes Beispiel dafür.

    Gut, mit einer "nur" guten Nummer muss der Hörer auch in dem Riff-Wirbelwind, der die zweite Hälfte dieses Albums bildet, noch Vorlieb nehmen. "Undone" nimmt ein Riff und einen Refrain, den man am ehesten vielleicht Nuller-Jahre-Europe zuordnen könnte und webt beides überraschend organisch in ein Metal-Korsett ein. Das ist durchaus interessant, aber am Ende des Tages doch nicht wirklich zwingend.

    Doch dann wird es noch einmal richtig mächtig: "Seven Seconds 'Til The End Of The World" stellt neben "The Wicked Hour" wohl den am stärksten progressiv angehauchten Song der Scheibe dar, ist aber im Vergleich zu dem anderen Track eine Klasse besser komponiert. Das war offenbar auch der Band selbst bewusst, die "7 Seconds..." als krönenden Abschluss ans Ende der Tracklist setzten; richtig so! Über die Produktion kann man wie so oft geteilter Meinung sein und während man durchaus festhalten kann, dass ein organischerer Sound einigen Songs des Albums nicht geschadet hätte, so muss man doch auch als Liebhaber des Retro-Charmes konstatieren, dass gerade die kalte, schneidende Produktion von Jacob Hansen einem Refrain wie diesem hier ein ganz eigenes Feeling verleiht. Nur am Rande vermerkt sei, dass es Flotsam And Jetsam schaffen, bei allen Prog-Einschlägen doch sämtliche Songs des Albums unterhalb der Fünf-Minuten-Marke zu halten - ein Umstand, an dem sich diverse Genre-Kollegen gerne ein Beispiel nehmen dürften, die sich mit allzu langem Spielen um den heißen Brei herum meist eher selbst ins sprichwörtliche Knie schießen.

    Fazit:
    "Blood In The Water" startet überfallartig in absoluter Weltklasse-Manier, versumpft dann bedauerlicherweise etwas, legt zuletzt aber noch einmal ganz locker zwei bis drei Scheite nach und liefert eine zweite Salve an Songs, die ausnahmslos jeder anderen Band, die aktuell im Genre unterwegs ist, das Wasser reichen kann. Das Niveau von "The End Of Chaos" erreicht man dennoch knapp nicht, da dieses einfach die noch konstantere Scheibe darstellte, doch ist es im Endeffekt müßig hier Eines über das Andere zu erheben; beides sind absolut empfehlenswerte und durchgehend starke Alben. Wer bisher nur die drei Singles kennt, der könnte nach dem ersten Hören des gesamten Albums vielleicht eine Prise Enttäuschung verspüren, da diese drei Nummern wirklich einen absoluten Über-Kracher hätten andeuten können. Andererseits kann man ja Flotsam And Jetsam schlecht einen Vorwurf daraus machen, dass sie als Singles die besten Songs ausgewählt haben. So sollte dann also am Ende das Fazit nicht lauten "Wo lässt sich noch ein Haar in der Suppe finden?", sondern vielmehr "Hurra, wir haben endlich einen ernsthaften Anwärter auf das Album des Jahres!". Denn von dem, was bisher im laufenden Jahre veröffentlicht wurde, spielt nichts auch nur in der gleichen Liga wie "Blood In The Water".


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