Review: Iron Maiden - Senjutsu:
Lange genug hat es gedauert bis zum neuen Iron Maiden-Album - ganze sechs Jahre, wenn man einmal exakt sein möchte. Entsprechend groß war natürlich die Spannung vor dem siebzehnten Streich der eisernen Jungfrauen, zumal ja auch deren vergangene Werke keineswegs immer über jeden Zweifel erhaben waren. Mit immer verkopfteren, progressiveren Outputs feierten die sechs Briten zwar kommerziell weiterhin ungebrochene Erfolge, machten sich bei den Oldschool-Fans jedoch keineswegs nur Freunde, um nicht zu sagen: sie vergraulten einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer vormaligen Fanschar. Dass die Band diesbezüglich freilich auch im Jahre 2021 keine Kompromisse eingehen würde, zeigte sich doch relativ schnell, denn "Senjutsu" stellt den Hörer vor eine echte Geduldsprobe. Wie beim Vorgänger "The Book Of Souls" handelt es sich um ein Doppelalbum mit einer Gesamtlänge von über achtzig Minuten. Nun ist das freilich nicht zwangsläufig das Todesurteil für ein Metal-Album - vielmehr gilt es umso mehr, sich einmal die Songs im Einzelnen anzusehen und zu prüfen, was die Gruppe musikalisch anzubieten hat.
Aber ach, schon der erste Song muss für jeden Liebhaber der klassischen Heavy Metal-Maiden ein bloßer Schlag ins Gesicht sein. "Senjutsu" nimmt seinen Anfang mit einem düsteren Drum-Pattern - übrigens dem einzigen Element des ganzen Albums, in dem man irgendwie das japanische Grundthema gespiegelt finden könnte. Leider bleibt diese Figur des Schlagzeug auch das Einzige, was an diesem Track irgendwie nennenswert wäre, denn zur Sache geht hier überhaupt gar nichts. Stattdessen entfaltet sich eine behäbige, beinahe unbewegte Doom-Nummer mit einem Refrain, dessen Gesangslinie ohne Weiteres einem Trinklied von der Münchener Wiesn nachempfunden sein könnte, so diese denn stattfände. Man kann sich nur vorstellen, dass Maiden hier versucht haben, in Richtung eines Großwerks wie "Powerslave" zu schielen, wobei sie allerdings erstens krachend scheitern und zweitens offenbar übersehen haben, dass auch dieser legendäre Song als Opener eine katastrophale Wahl gewesen wäre. Selbst abseits aller Mängel, die "Senjutsu" als Song so aufweist, erschließt es sich wirklich nicht, weshalb man eine derartig schnarchige Nummer das Album eröffnen lässt und damit die Zuhörer schon in den Schlafmützen-Modus versetzt, ehe die Scheibe überhaupt richtig begonnen hat.
Einen wesentlich besseren Auftakt hätte da schon "Stratego" dargestellt, welches ja auch bereits vorab als Single ausgekoppelt worden war. Diese Nummer geht bedeutend prägnanter nach vorne und könnte ein durchaus passabler Maiden-Song sein, wenn, ja wenn doch nur dieser Synthesizer nicht wäre! Selbiger kam schon beim Opener zum Einsatz und von ihm wird in diesem Review noch öfter die Rede sein, stellt er doch den schwerwiegendsten von allen Kritikpunkten an "Senjutsu" dar. Es ist wirklich unerklärlich; Iron Maiden wollen hier ein anderthalbstündiges, monumentales Epos zelebrieren und bedienen sich dafür des billigsten Plastik-Synthies der nächstbesten Bierzelt-Band. In diesem Falle grätscht der schrille Dissonanz-Bolzen mitten in den ansonsten wirklich guten Refrain und zerstört diesen in den Grundfesten.
Das soll freilich nicht heißen, dass die Nummern, die auf Synthies verzichten, zwangsläufig besser wären. "The Writing On The Wall" beispielsweise, bekannt schon als erste Single von "Senjutsu", beginnt mit einem Intro zwischen Blues und Country und versandet dann als spannungsloser Southern Rocker. Insbesondere in Bezug auf diesen Song hört man im Internet bisweilen hohes Lob auf Bruce Dickinson für seine gesangliche Leistung; dem sei an dieser Stelle einmal mit aller Entschiedenheit widersprochen. Man darf vielleicht daran erinnern, für welch einen Aufschrei es Anfang der Neunziger sorgte, als Bruce zu Zeiten von "No Prayer For The Dying" und "Fear Of The Dark" öfter mal in tieferen Tonlagen sang und die hohen Schreie eher mied. Natürlich ist es unfair, Leistungen eines Sängers über einen Zeitraum von dreißig Jahren zu vergleichen, immerhin ist ein Alterungsprozess jedem Menschen zugestanden; aber es muss doch jedem klar sein, dass man Bruce für eine gesangliche Leistung wie auf "Senjutsu" seinerzeit mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt hätte. Sicher, dass er mit den hohen Tonlagen seine Probleme hat, ist nicht erst seit gestern der Fall, doch bis "The Book Of Souls" hatte man den Eindruck, der Frontmann bemüht sich wenigstens redlich. Auf "Senjutsu" nun bewegt er sich wirklich keinen Jota mehr aus seiner tonalen Komfortzone, was allein dem Album im Vergleich zu anderen Maiden-Werken gleich ein ganzes Maß an Energie kostet.
Die einzige Passage des Albums, in der Bruces Stimme tatsächlich positiv auffällt, ist das Intro zu "Lost In A Lost World", das freilich musikalisch dermaßen lahm konstruiert ist, dass dem geneigten Hörer umgehend die Füße einschlafen (der in anderen Rezensionen gerne gezogene Vergleich zu The Moody Blues kann hier mangels Detailkenntnis zu dieser Band weder bestätigt noch verworfen werden, rein stilistisch scheint er aber in die richtige Richtung zu weisen). Zum Glück entwickelt sich der Song nach zwei Minuten und gestaltet sich in der Folge als eine Art "Fear Of The Dark"-Verschnitt mit dem Refrain von "Brave New World"; ein weiteres großes Manko dieses Albums - die Jungfrauen kopieren sich über die gesamte Spielzeit hinweg immer wieder munter selbst. Erschwerend kommt bei "Lost In A Lost World" noch eine wirklich schwache und langweilige Solo-Sektion hinzu. Fairerweise muss man anmerken, dass diese auf "Senjutsu" einen Einzelfall darstellt, doch beraubt sie den genannten Song dennoch jeglicher Chance, noch irgendwo im qualitativen gesicherten Mittelfeld zu landen.
Diesem wesentlich näher käme an sich schon "Days Of Future Past"; zumindest stellt jener Song, in gewisser Anlehnung an "Wildest Dreams" gestaltet, die Nummer mit dem größten Potential auf "Senjutsu" dar. Doch leider wird auch dieser Track zum bloßen Ärgernis, wenn er durch unpassende Synthies und einen völlig vergurkten Gitarren-Sound von der Band selbst versenkt wird - man möchte fast sagen, mit Vorsatz. Denn was schon auf "Somewhere In Time" in den Achtzigern nicht funktioniert hat, das versucht die Gruppe hier noch einmal in verstärkter Form und geht damit prompt erneut baden.
Ähnliche Plastik-Klänge bestimmen auch den Beginn von "The Time Machine"; hier haben Maiden munter in Richtung von "The Talisman" geschielt. Hat man das Intro einmal überstanden, entwickelt sich das Stück zu einer recht durchschnittlichen Nummer, die in keiner Weise als besonders abstoßend auffällt, allerdings ebenso wenig im Gedächtnis bleibt. Tatsächlich mag es sich hier um den farblosesten Song des gesamten Albums handeln.
Somit endet CD Nummer 1 auf einer etwas unscheinbaren Note. Die zweite Hälfte des Doppelalbums wiederum beginnt mit Meeresrauschen, welches "Darkest Hour" einleitet, das sich ironischerweise gerade als der größte Lichtblick auf "Senjutsu" entpuppt. Auch dieser Song wird wieder von Synthesizer-Klängen begleitet, doch fügen sich diese in den eher balladesken, sehr düsteren Track in der Nachfolge von "Wasted Love" wesentlich besser und organischer ein, als das auf dem Rest des Albums der Fall ist. Überdies hat man es hier mit dem eindeutig ansprechendsten und tiefgründigsten Text des Albums zu tun, welcher die Person Winston Churchills zum Thema hat.
Den Rest der Scheibe nimmt dann das ein, was man wohl als die Steve-Harris-Suite bezeichnen könnte, denn die folgenden drei Longtracks gehen kompositorisch alle auf das Konto des Bandleaders. Den Anfang macht dabei "Death Of The Celts", das wie die meisten Songs des Albums erst mal mit einem reichlich spannungslosen Akustik-Intro aufwartet und sich dann zu einer überdeutlichen Hommage an "The Clansman" entwickelt. Man kann sich nicht entsinnen, dass Iron Maiden sich jemals in ihrer Karriere derart schamlos selbst kopiert hätten. Doch ist dieser Umstand nicht einmal das Schlimmste an dem Track; vielmehr passiert nämlich genau das, womit man rechnen muss, wenn eine schwächelnde Band versucht, sich an einem ihrer großen Klassiker wieder aufzurichten, und zwar scheitert die Gruppe krachend an der Qualität der selbst gewählten Vorlage. Trotz seiner gefühlt siebenundneunzig verschiedenen Parts kommt "Death Of The Celts" kaum vom Fleck, nie auf den Punkt, dafür aber kräftig unter die Räder, wenn direkt vor den drei langen Soli ein eine geradezu schmerzhafte Synthie-Passage für einen absoluten Tiefpunkt des Albums sorgt.
"Tiefpunkt" ist allerdings auch dann ein gutes Stichwort, wenn man über "The Parchment", den mit knapp dreizehn Minuten längsten Track des Albums, sprechen möchte. Die Synthies zerstören hier nicht nur einen spezifischen Teil des Stücks, sondern wurden eher großflächig eingesetzt. Ansonsten hat man sich wohl einmal mehr an "Powerslave" orientiert, dieses Vorbild allerdings in eine Instrumental-Orgie verwandelt. Mal abgesehen davon, dass die Laufzeit der Nummer mindestens das Vierfache von dem beträgt, was dem Stück guttäte, ist auch das musikalische Material an sich einfach schlecht und offensichtlich nur darauf ausgelegt, schmückendes Beiwerk zu den ausufernden Soli zu sein. Deutlicher als irgendwo sonst auf "Senjutsu" präsentieren sich Maiden hier als Truppe von - an sich durchaus talentierten - Instrumentalisten, die einzig und allein durch das Bedürfnis geeint werden, mindestens anderthalb Minuten im Vordergrund vor sich hin fiedeln zu dürfen, sowie durch die Bereitschaft, im Austausch hierfür die anderen Mitglieder zu begleiten, während sie reihum dasselbe Vorhaben in die Tat umsetzen.
Um diese zwei vorangegangenen Totalausfälle zu überbieten, würde es nun eigentlich genügen, wenn "Hell On Earth" auch nur ein Mindestmaß an Stringenz und musikalischem Mehrwert aufwiese, und tatsächlich gelingt das auch zumindest einigermaßen, wenngleich auch dieser Song wieder nach Schema F gestrickt ist (man beachte, dass mit Ausnahme von "Stratego" jede der sechs von Steve (mit-)verfassten Nummern über einen fast gleichartigen Einstieg in Form eines mehrminütigen (Akustik-)Intros verfügt) und das Intro wohl selbst unter den ohnehin spannungsarmen Einleitungen, mit denen "Senjutsu" gespickt ist, noch den Tiefpunkt darstellen dürfte. Wenn der Song dann einmal Fahrt aufgenommen hat, geht er eigentlich in Ordnung, bis der Band auffällt, dass sie für den krönenden Abschluss der Scheibe ja pflichtbewusst nochmal alle Register ziehen müssen, was jedoch in Anbetracht der bloßen Menge an Tempi, Rhythmen und Harmonien eher zu Verwirrung denn zu einem Grande Finale führt.
Fazit:
Bisweilen hört man unter Maiden-Fans die Meinung, die Alben der Jungfrauen seit Bruces Rückkehr stellten gewissermaßen nur verschiedene Ausprägungen ein und desselben Schemas dar. Diese Ansicht, während sie sicherlich nicht als völliger Unfug abzutun ist, verkennt freilich den ganz zentralen Punkt, dass eine Scheibe wie "Brave New World" noch mitreißende, vergleichsweise einfache Nummern wie "Ghost Of The Navigator" oder "Out Of The Silent Planet" zu bieten hatte und dass selbst ein Longtrack wie "Dream Of Mirrors" über einen erkennbaren roten Faden verfügte, dem man als Zuhörer folgen konnte. Vielmehr setzte freilich ab jenem Album eine Entwicklung ein, im Zuge derer musikalisches Maß und Sinnhaftigkeit immer mehr bloßer Show und immer neuen Leveln an Überdimensionalität (der Begriff "Progressivität" wäre falsch gewählt, denn Progressivität bedeutet, wenn man es einmal auf die lateinische Wortwurzel zurückführt, ein "Voranschreiten", und genau das lassen die Songs der Jungfrauen in den letzten Jahren ja gerade so schmerzlich vermissen) geopfert wurden. "Senjutsu" ist die logische Fortführung dieser Entwicklung; das Album steht megalithisch wie eine Felskonstruktion, doch ungefähr genauso spannend wie die millionste Felswand in dem Grand Canyon, den Maiden ihren Song-Katalog nennen. Das Wasser aber, das locker-verspielte Element ohne Anspruch auf überbordende Monumentalität, das der Musik ebenso wie der Natur ihr Leben einhaucht, hat hier schon lange aufgehört zu fließen.
ANSPIELTIPP: